Kopfkino - der Unterschied zwischen Phantasie und Realität

Wir haben alle Tabus, festgelegte Grenzen, Praktiken, die wir niemals tun oder mit uns machen lassen würden, so unterschiedlich diese Tabus auch sein mögen. Auch Doms haben Tabus. Sobald ein (Spiel-) Paar über diese Tabus gesprochen hat, sind sie unantastbar. Man ist sich darüber einig, dass man bestimmte Dinge nicht in Angriff nimmt, und spricht erst mal nicht mehr darüber. Möglich, dass Grenzen nach einiger Zeit verschoben und Tabus neu verhandelt werden, weil man neugierig wird oder das Vertrauen zum Partner steigt. Aber was ist mit unseren Phantasien, die in unserem Kopfkino stattfinden?

Jeder von uns hat sich schon einmal Fetisch- oder SM-Seiten im Internet angesehen, auf denen Bilder oder Filme von Männern und Frauen gezeigt werden, an denen brutalste, schmerzhafteste, "perverseste" Handlungen vorgenommen werden - zumindest für unseren individuellen Eindruck. Wir sind schockiert und entsetzt - beim allerersten Hinsehen. Wir sind erschüttert, dass diese Menschen so etwas mit sich machen lassen, und können nicht glauben, dass das freiwillig geschieht. Wir sind angeekelt von dem, was wir da sehen - und können doch unseren Blick nicht lösen.

Je länger wir hinsehen, umso faszinierender wird das, was wir da betrachten. Wir stellen uns den Schmerz und die Demütigung vor, die die Person auf den Bildern zu erleiden hatte, spüren plötzlich einen Funken von Erregung und vernehmen in unserem Kopf den abstrusen Gedanken "was wäre, wenn..."

Nun, da wir wissen, dass es Dinge gibt, die wir uns bisher nicht vorzustellen wagten, entwickelt unser Kopfkino ein Eigenleben. Wir stellen uns vor, dass wir derjenige sind, dem diese Dinge angetan werden, demütigender, schmerzhafter, "perverser" als wir es jemals im realen Leben erdulden mussten, und wir stellen zu unserem Entsetzen fest, dass uns der Gedanke daran erregt und gefangen nimmt. Wir stellen uns in den Mittelpunkt des Geschehens und schmücken die Bilder aus. Entweder unser Dom ist derjenige, der uns die bösen Dinge antut, oder ein gesichtsloser Fremder - bzw. mehrere. Wir greifen auf das zurück, was wir schon kennen und versuchen, den Schmerz und die Demütigung zu multiplizieren. Dabei können wir uns nur die Szenerie vorstellen und nicht das, was mit uns wirklich geschehen würde, einfach weil extremere Sinnesreize als die, die man schon kennt, nicht fühlbar bzw. vorstellbar sind.


Nun haben wir drei Möglichkeiten.

  1. wir sehen uns solche Bilder nicht mehr an und verbannen das Kopfkino in die hinterste Ecke
  2. wir genießen unsere perversen Phantasien im stillen
  3. wir sprechen mit unserem Dom darüber

zu 1:

Das wird wohl kaum funktionieren, jedenfalls nur für eine kurze Zeit. Zum einen haben wir diese Webseiten längst in unsere Favoriten gepackt oder kennen die URL auswendig, und wenn wir am PC sitzen und sonst nichts zu tun haben, klicken wir diese Seiten an, ob wir wollen oder nicht. Oder wir haben uns schon Bilder auf die Festplatte geladen und bringen es nicht über uns, sie zu löschen. Und in einer stillen Stunde springt unser Kopfkino an, und bevor wir uns bremsen können, ist es schon wieder passiert - wir stellen uns Dinge vor, die wir uns untersagt haben.

zu 2:

Wir haben uns entschlossen, uns unseren Phantasien hinzugeben und mit niemandem darüber zu sprechen, höchstens andeutungsweise mit einem Freund, einer Freundin - aber selbst dem engen Vertrauten wagen wir nicht alles zu erzählen, was da in unserem Kopf vorgeht. Unserem Dom werden wir nichts davon berichten - er könnte entsetzt sein, dass wir an so etwas überhaupt denken. Wir haben ja selbst schon ein schlechtes Gewissen, dass wir solche Phantasien hinter dem Rücken unseres Doms haben, weil wir doch in ihm jemanden haben, der unsere Phantasien in die Realität umsetzt - nur diese eben nicht. Als Ausgleich schreiben wir vielleicht Geschichten, in denen diese Phantasien vorkommen - wenn auch in abgeschwächter Form, falls jemand sie zu lesen bekommt.

zu 3:

Und wenn wir es unserem Dom doch erzählen? Wenn wir ihm erzählen, ich stelle mir dies und das vor (was auch immer), und der Gedanke daran erregt mich, aber ich würde das niemals wirklich tun wollen?

  • Entweder er hört sich unsere Phantasien an und genießt sie mit uns, spinnt sie weiter, schmückt sie aus, immer mit der Sicherheit, dass es eine Phantasie bleibt.
  • Oder er benutzt die Spielart und die Praktiken, die wir erlauben, um unsere Phantasie zumindest zum Teil in die Realität zu übertragen, und spielt mit Worten, um uns die Vorstellung zu verschaffen, es könnte oder würde wirklich geschehen.
  • Oder er hört uns zu, erwägt, wie viel davon für ihn und seinen Sub tatsächlich machbar sein könnte, und wird langsam, vorsichtig und mit Absprache daran gehen, das Spiel auszuweiten, bis die Grenze unzweifelhaft erreicht ist.
  • Oder er versteht den Unterschied zwischen Phantasie und Realität nicht, macht sich daran, unsere Phantasien 1:1 umzusetzen und begreift nicht, warum wir uns plötzlich weigern. Dann hat er einzusehen, dass auch Subs (hier speziell Frauen) perverse Phantasien haben, die in der Realität nichts zu suchen haben (müssen). Wir kennen unsere Schmerz- und Leidensgrenze, und wenn wir nicht wollen, dass diese ausgereizt wird, dann wollen wir nicht, und das hat Dom hinzunehmen.
  • Oder er ist so schockiert von dem, was er da zu hören bekommt, dass er glaubt, sein Sub würde ihn überfordern wollen oder mit seiner Neigung nicht zu ihm passen. Auch dann müssen wir Dom erklären, dass Phantasie und Realität voneinander zu trennen sind. Wir werden ihn beruhigen, dass wir "so etwas" nie wirklich tun wollen werden, dass wir mit dem Spiel, so wie es stattfindet, zufrieden sind, und wir werden in Zukunft den Mund halten. Oder uns einen Dom suchen, der den Unterschied versteht.

Sind wir nun wirklich perverser als wir eigentlich dachten, wenn wir von solchen Dingen phantasieren, die noch viel "schlimmer" sind als das, was wir tatsächlich schon tun - und ist das nicht schon pervers genug? Müssen wir uns schämen, über uns entsetzt sein und uns solche Phantasien verbieten?

Blödsinn.

Für den Vanilla ist es eine perverse Phantasie, seinen Partner mit Handschellen ans Bett zu fesseln; für uns, die wir solche Dinge und noch viel mehr tatsächlich leben, geht die Phantasie eben noch ein Stück weiter. Wir sind nicht schlecht oder perverser als andere, nur phantasievoller. Wir können unsere Phantasien in unserem Kopf stattfinden lassen und sie genießen, oder wir können uns vorwagen und unseren Dom daran teilhaben lassen. Aber auch wenn wir sie für uns behalten, so sind sie ein Teil unseres Selbst, der zu uns gehört und der niemanden etwas angeht. Die Gedanken sind frei, und das gilt auch für "Perverse".

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