Sade - Die neue Justine

Autor: Donatien Alphonse Françoise Marquis de Sade (geb. 2.6.1740 in Paris, gest. 2.12.1814 in Charenton bei Paris)

Titel: "Die neue Justine oder Das Unglück der Tugend. Die Geschichte ihrer Schwester Juliette"

Originaltitel: "La nouvelle Justine ou les malheurs de la vertu, suivie de l'histoire de Juliette, sa soeur"

Gattung: Doppelroman

Erstveröffentlichung: Paris 1797

Einführung

Dem philosophischen Abenteuerroman "La nouvelle Justine ou les malheurs de la vertu, suivie de l'histoire de Juliette, sa soeur" ("Die neue Justine oder Das Unglück der Tugend. Die Geschichte ihrer Schwester Juliette") des französischen Schriftstellers Donatien Alphonse Françoise Marquis de Sade gingen zwei Einzelwerke voraus, die in drei Fassungen zwischen 1787 und 1797 entstanden sind. Als erste Fassung der "Justine" gilt das nachgelassene und postum (1930) erschienene Manuskript "Les infortunes de la vertu" ("Das Missgeschick der Tugend"), das Sade 1787 im Gefängnis verfasst hat. In einer zweiten Fassung arbeitete Sade 1788 die "philosophische Erzählung" zu einem Abenteuerroman um, deren Protagonistin Justine ist, die in Ichform von ihren ungeheuerlichen Erlebnissen berichtet und diese in dezente Form kleidet. Veröffentlicht wird diese Fassung erstmals 1891. In dieser Fassung verstärkt Sade die obszönen Details und fügt theoretische "dissertations" an, mit denen die Personen ihre Handlungen rechtfertigen. In der dritten (und definitiven) Fassung "entzieht" Sade der Protagonistin das Wort, formuliert die schaurige Abenteuergeschichte zu einem "objektiven Bericht" um und fügt unwahrscheinliche und scheußliche Details an. Die dritte Fassung entsteht bis 1797 und wird im selben Jahr unter dem Titel "La nouvelle Justine ou Les malheurs de la vertu" veröffentlicht. Die dritte Fassung wird von dem zweiten Teil des Doppelromans, der Geschichte der Juliette flankiert, der zwischen 1790 und 1796 entstanden und 1797 erstmals erschienen ist. Erst in der Zusammenfügung der beiden Biografien erreicht Sade wiederum ein "philosophisches" Motto, das lautet: Die Tugend wird bestraft. Das Laster wird belohnt.

Handlung

Justine und Juliette, zwei junge Mädchen einer reichen Pariser Bankiersfamilie, genießen bis zu ihrem 14. bzw. 15. Lebensjahr eine strenge Klostererziehung. Durch den Bankrott der Bank wird die Familie ihrer Existenzgrundlage beraubt und geht daran zu Grunde. Zunächst stirbt der Vater, dann die Mutter. Am Ende stehen die Waisen mit 100 Talern vor den Toren des Klosters und sind aufgefordert, ihr Glück in der Welt zu machen. Während die ältere der beiden, die temperamentvolle und lasterhafte Juliette sich freut, nicht mehr länger im Kloster "schmachten" zu müssen, sieht die naive und tugendhafte Justine der neuen Freiheit mit Grauen entgegen. Die Wege der beiden ungleichen Schwestern trennen sich. Ein Wiedersehen wird nicht vereinbart.

Justine gelangt zunächst in das Haus des reichen Steuerpächters Dubourg, dem sie ihr Leid schildert und naiv ihre "Dienste" anbietet. Dubourg beschimpft sie als Bettlerin, enthüllt sein "Mannswerkzeug", legt seine faschistische Gesellschaftstheorie dar und versucht, sie zu vergewaltigen. Doch Juliette bleibt "standhaft" und flieht. Es beginnt eine "Odyssee der Unschuld", in dessen Verlauf Justines Tugendhaftigkeit mit der Lasterhaftigkeit der "Elite des Bösen" konfrontiert wird. Im Haus der Kupplerin Desroches versucht ihr diese darzulegen, dass es in der "Gesellschaft" nicht auf Tugendhaftigkeit, sondern auf die "Maske der Tugend" ankommt. Wieder hält sie stand und verlässt die Station. Im Haus der Dubois lernt sie, dass das Verbrechen der Lebenserhaltung dient. Später erklärt ihr der Bandit Coeur-de-Fer, dass die Frauen dazu gemacht seien, dem Manne zur Lust zu dienen. Auch er entwickelt daraus eine faschistische Kriegstheorie und versucht, Juliette zu vergewaltigen. Wiederum auf der Flucht wird Justine Zeugin der homophilen Neigungen des Marquis de Bressac. Als die beiden Männer sie im Gebüsch entdecken, wird sie "bestraft". Trotz des "unwürdigen" Verhaltens des Marquis beginnt Justine, den Marquis zu verehren. Der Leidensweg setzt sich fort: In einem Pensionat beobachtet Justine die brutale "Erziehungsmethode" von Rodin und seiner Schwester Celestine, die untereinander eine inzestuöse Beziehung haben. Die allwöchentliche "Bestrafungszeremonie" der Erzieher besteht aus körperlichem und sexuellen Missbrauch der Schüler. Die Szenerie endet mit einem Lob Rodins auf die Libertinage, sexuelle Ausschweifung und Unzucht. Justine begibt sich in die Dauphiné, einen Landstrich Frankreichs, der zwischen der mittleren Rhone und den Alpen liegt. Dort glaubt sie, ihr Glück zu finden. Doch die Brutalitäten verstärken sich: In der Dauphiné trifft sie auf den Kindermörder Bandole, der einen Zeugungs- und Vergewaltigungsapparat geschaffen hat, in dem er Säuglinge "züchtet", um sie zu missbrauchen. Bandole vergewaltigt Justine. Wiederum hält Justine ein flammendes Plädoyer für die Menschlichkeit, flüchtet und sucht in dem Kloster Sainte-Marie-de Bois Zuflucht und Buße. Doch selbst vermeintliche Enklaven der Unschuld wie Klöster und Kirchen werden zu Schauplätzen der Perversion.

Der Mönch, der Justine die Beichte abnimmt, missbraucht sie anschließend. Es folgt das "Fest der Jungfrau", währenddessen Justine wiederum das Opfer homophiler Exzesse wird. Zu den blasphemischen Handlungen der Mönche gehört auch die Verhöhnung liturgischer Elemente. Es folgt die Geschichte des Jeronimus und seiner Schwester, der diese zuerst missbraucht und sie schließlich zum Muttermord verführt und in den Tod treibt. Der "Kreuzweg" der Justine führt weiter zu den Prinzen von Hohenzollern, dem Knaben jagenden Clementia, dem Chemiker Almani, dem blutrünstigen und perversen Monsieur de Gernande und seiner anämischen Frau, die bei einer Orgie brutal zu Tode gequält wird. Zuletzt begegnet Justine dem sodomasochistischen Henker, der sich von ihr fast zu Tode quälen lässt. Der erste Teil des Doppelromans endet mit einem "staatsphilosophischen" Essay, der die Unterdrückung und Ausrottung des "unnützen" Volkes in faschistischer Weise zu rechtfertigen versucht.

Der zweite Teil des Romans schildert das Wiedersehen der beiden Schwestern. Die lasterhafte Juliette hat das Leben belohnt. Sie gehört zum engeren Kreis hochrangiger Politiker und ist zu Reichtum und Ansehen gelangt. Als sie nach einem unverhofften Wiedersehen der entsetzten Schwester ihren Werdegang schildert, wird deutlich, dass sie ebenso wie ihre Schwester brutalen, herrischen und perversen Figuren begegnet ist. Doch sie hat sich nicht auf die Seite der Opfer, sondern auf die Seite der Täter geschlagen. Je skrupelloser und unbarmherziger sie sich der Prostitution, Kuppelei und dem Verbrechen hingegeben hat, umso glücklicher wurde sie und desto würdiger erwies sie sich, in den Kreis der Elite des Bösen aufgenommen zu werden. Ihre "Odyssee des Lasters" führte sie u.a. nach Italien, wo sie auf den kannibalisch veranlagten Moskoviten Minski traf, der eine brutale Todesmaschinerie entwickelt hat, auf Papst Pius VI., der ihr zuliebe eine schwarze Messe im Petersdom zelebrierte, auf den Räuberhauptmann Brisa-Testa, der mit seiner Schwester im Inzest lebte, und auf König Ferdinand von Neapel, der in den Ruinen von Pompeji ein blutiges Orgientheater eingerichtet hatte. Die Orgien des Schreckens findet ihren unmenschlichen Höhepunkt in der Folterung und Verbrennung ihrer eigenen Tochter und dem leidenschaftlichen Geständnis, dass allein das Verbrechen sie errege. Die unglückliche Justine ist der "Sittenlehre" ihrer lasterhaften Schwester mit Entsetzen gefolgt. Die "starke" Juliette und die "schwache" Justine stehen sich nun direkt gegenüber. Nun setzt Juliette an, ihre Schwester zu vernichten. Sie verstößt sie und schickt sie in Erwartung eines Gottesurteils in ein infernalisches Gewitter. Als Justine tatsächlich vom Blitz erschlagen wird, schänden die "Libertins" die entstellte Leiche. Doch auch diese Untat wird belohnt: Der König beruft Noirceuil zum neuen Premierminister und Juliette und ihre Komplizen gelangen mit ihm zu Reichtum und Ehre.

Deutungsaspekte

Die Konstruktion der exemplarischen Biografien folgt dem Schema der Umkehrung der christlichen Moralvorstellungen: Nicht Tugend, sondern das Laster wird belohnt. Sade persifliert damit die barocke Erbauungsliteratur. Er lässt die beiden Schwestern wie zwei Allegorien durch die Maschinerie des Bösen wandern. Innerhalb des "sadistischen Systems" werden die konventionellen Tugenden jedoch keineswegs aufgehoben, sondern leglich "umfunktioniert": Menschlichkeit, Sanftmut, Mitleid, Gehorsam und Tugendhaftigkeit erhalten eine neue Funktion. Ein Beispiel soll dies belegen: Auf die Bitte Justines, der vernichtenden Orgie am Geburtstag der Madame Gernande fernbleiben zu dürfen, antwortet der Tyrann: "Deine süße Tugend ist unentbehrlich. Nur die Verschmelzung dieser reizenden Eigenschaft mit unserer Lasterhaftigkeit lässt unsere Sinnenlust wachsen." Die Tugenden wie die Laster haben ihre Funktion in dem System der tyrannischen Macht, das sich durch sexuelle Exzesse und Unterdrückung definiert. Machtausübung ist dabei ein Selbstzweck. In diesem Aspekt kommt Sade der Staatstheorie Machiavellis nahe. Sade zeichnet ein zynisches Zerrbild einer Gesellschaft, die ihre Religion verloren hat, und schildert die Mechanismen der Ausgrenzung "unerwünschter" Gesellschaftsgruppen. Sade führt die beiden "Heldinnen" durch eine Welt der "naturgewollten" Aufteilung der Schöpfung in Starke und Schwache und leitet daraus das Recht des "Stärkeren" auf Vernichtung der "Schwächeren" ab. Inzest, Sodomie, Sadismus, Kindesmissbrauch und skatologische Exzesse werden als Exempla des Verbrechens dargestellt, aus dem es kein Entrinnen gibt. Das Bedenkliche dieses Romanwerks besteht darin, dass Marquis de Sade aus dem "schwarzen Rousseauismus" eine faschistische Gesellschaftsutopie ableitet, die nicht nur die Rechtsstaatlichkeit verhöhnt, sondern auch zu Mord und Verbrechen am Volk aufruft. Der Leser, der es schafft, sich dem Sadeschen Werk "objektiv" zu nähern, findet reiches Studienmaterial zum Thema totalitäre Denkkategorien.

Nachwirkung

Die "Neue Justine" des Marquis Sade wurde zu allen Zeiten kontrovers rezepiert: Faszination und Ablehnung lagen oft nahe beieinander. Dort jedoch, wo eine Rezeption stattfand, war sie tief greifend. Spuren Sadescher Philosophie finden sich in Friedrich Nietzsches Schrift "Der Wille zur Macht" (1888). Auch die Surrealisten, darunter besonders André Breton, haben die "surrealistisch" anmutenden Passagen Sades hoch geschätzt. Georges Bataille, der die "Oeuvres Complètes" von Sade herausgegeben hat, hat in seinen Werken immer wieder die Gedankenwelt Sades aufgegriffen und verwandelt.
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